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Psychische Erkrankung - über die Normalität der Abweichung in verunsicherten Zeiten

  1. Die Zahl der psychischen Erkrankungen steigt an (https://unric.org/de/who17062022/) In Familientherapien gehört es mehr und mehr zur Tagesordnung, dass mindestens ein Familienmitglied eine psychiatrische Diagnose über eine dementsprechende Erkrankung erhalten hat. 
  2. Unabhängig davon, wie in diesen Fällen der jeweilige Behandlungsplan für das betroffene Individuum aussieht, stellt sich die Frage, was die “neue Normalität“ der psychischen Erkrankungen für das System Familie bedeuten kann. 
  3. Diese Bedeutungsebenen hängen m. E. stark davon ab, welche sprachlichen Mittel wir einsetzen wollen, um den Umstand, den Zustand, die Symptome einer psychischen Erkrankung zu schreiben. Unterscheiden wir z.B. (wie noch üblich im klinischen Bereich) zwischen psychischer Erkrakung und einer Persönlichkeits-störung? Oder beschränken wir uns auf die alltagstauglichen Symptom- und Verhaltensbeschreibungen? Wollen wir überhaupt “darüber“ reden – und wenn ja, wie, auf welche Weisen mit welchen Worten? 

 

“Welche sprachlichen Mittel wollen wir einsetzen, um den Umstand, den Zustand, die Symptome einer psychischen Erkrankung zu schreiben?“

 

  1. Meine Beobachtung ist, dass es meist bei diagnostischen Schlagworten wie “Angststörung“ oder “Soziale Anpassungsstörung“ bleibt. Und wir alle versuchen möglichst verständnisvoll zu wirken u. zu nicken, fallen denn solche Schlagworte.  Aber verstehen wir, was wir da benennen? Oder opfern wir uns (auch) der psychischen “Schlagwort“ und “Hashtag“-Kultur? 
  2. Wir ahnen etwas. Schließlich können wir uns alle etwas unter “Angst“ oder “Anpassung“ vorstellen. Das reicht schon aus?! Denn das Zauberwort “Stör-ung“ (oder eben auch “Erkrankung“) beschreibt dann den vermeintlich aussage-kräftigen Rest. Wir haben den Hinweis, dass etwas “in uns“ nicht so funktioniert, wie wir es im (berüchtigten?) Normalfall erwarten würden. 
  3. Genau. Da ist sie wieder, die trügerische Normalität. Dabei ist, so wirkt es jedenfalls auf mich, heutzutage fast nichts mehr normaler, als die ‹Störung› selbst. Fast scheint es, als ob eine “gesunde Normalität“ so untypisch, fast anmaßend (und sogar etwas politisch inkorrekt) ist – ja sein muss – denn die offen eingestandene und im Stile des fortgesetzten “Coming-Outs“ offenbarte Abweichung braucht es, um unsere Sehnsucht nach Gleichheit unter Verschiedenen, unter dermaßen (beängstigend…!) diversen Identitätsprofilen stark und aus- und andauernd zu behaupten. 

 

“Die offen eingestandene und im Stile des fortgesetzten “Coming-Outs“ offenbarte Abweichung braucht es, um unsere Sehnsucht nach Gleichheit unter Verschiedenen zu behaupten.“

 

  1. Insofern ist die “Störung“ eine normale und erwartbare Reaktion auf eine bereits “vorgestörte“ Normalität der erwünschten Abweichung. Eine Normalität, deren aggressive und oft wenig humane Aufdringlichkeit uns alle belagert: sei es im Identitäts-Zwang, im Outfit-Zwang, im Konsum-Zwang, im Spass-Zwang … und sei es eben auch in einem gewissen Zwang zur psychologisierenden Selbstverortung, inklusive des Zwangs zur psychiatrischen Diagnose. Wir sind psychisch erkrankt, eben weil auch das ein gemeiner Zwang dieser aggressiven Normalität ist, ebenso wie die eilfertige Bestätigung dessen, seine amtsärztliche Ausweisung. 
  2. Es lebe also die Störung, ob sie nun psychisch oder körperlich, in der Regal ja beides, daherkommt. Aber noch immer fehlen uns (zumindest mir…) die Worte. Welche Sprache spricht die Abweichung der psychischen Erkrankung? Mir kommt es so vor, als ob ihr Kennzeichen die Sprachlosigkeit selbst ist: Denn als Sprache der psychischen Erkrakung wäre sie ausdrucksfähig und mitteilsam, was sie norma-lisieren würde, was bei einer Störung nur bedingt das Ziel sein kann. Eine Heilung käme sozusagen zu normal daher. Und schließlich soll eine Störung eine Störung bleiben (?); zumindest solange sie uns darin, sei es in einem systemischen und sozialen Maß von Nutzen sein kann (dies aber soll das wirkliche Leiden und seine Anerkennung von wirklich Betroffenen keineswegs ironisieren! Psychisches Leiden ist real und – ja auch das – normal!). Zumindest scheint die Störung verschlossen, abgekapselt in der “Psychiatrie des Gehirns“ verbleiben zu müssen. Kommunikativ hochwirksame Worte wären, auch hier, irgendwie zu normal, wo es doch um Worte wie “Neurotransmitter“, “Botenstoffe“, “Gehirnareale“, “Exekutivfunktionen des Gehirns“ und anderes mehr geht, kurz, um die Geheimnisse dessen, was wir uns selbst als ›Bewusstsein› zuschreiben, nebst dessen (fehlverorteten) Sitz im Gehirn und dessen psychische Ausprägungen. 

 

“Eine gelungene Sprache der psychischen Erkrankung wäre ausdrucksfähig und mitteilsam, was sie normalisieren würde, was bei einer Störung 

nur bedingt das Ziel sein kann. 

Eine Heilung käme sozusagen zu normal daher.“

 

 

  1. Die Sprache der psychischen Erkrankung funktioniert aber auch deswegen zu wenig, weil unsere Unterscheidungsfähigkeit zwischen Außenwahrnehmung und innerem Zustand im Laufe der technik-affinen Umgestaltung der Welt mehr und mehr abhandengekommen ist: Alles ist “in-uns-selbst“ (außer Kontrolle) und alles ist “außerhalb-von-uns-selbst“ jenseits eines entspannt-selbstwirksamen Erlebens. Beides zusammen lässt uns orientierungslos und überspannt, im beständigen Arousal eines hyperkognitiv ausgerichteten Zustandes zurück. Es führt auch dazu: Im Außen hat kaum noch etwas eine wirkliche Bedeutung oder alles hat eine viel zu große, eine überhitzte Bedeutungsebene. Und immer ist (dementsprechend) in uns alles zu leer oder zu überfüllt – im letzteren Fall mit Gedanken, Impulsen, Wahrnehmungen, Emotionen. Es gibt aber keinen heilsamen Zwischenraum mehr, zwischen Innen und Außen. Dieser Zwischenraum ist (und wäre) eben eine ‹Sprache›  und ihre Sprachlichkeit in uns und außerhalb von uns selbst; eine Sprache und ihr Vermögen, uns wirklich (!) zu verbinden mit der Welt und anderen Menschen – und uns dabei gegenseitig zu regulieren. Ein Sprache, die das, was psychische Erkrankung ist, auf eine Weise artikuliert, die hilfreich und verbindend, statt lediglich qualifizierend und benennend ist. 

 

“Alles ist “in-uns-selbst“ (außer Kontrolle) und alles ist “außerhalb-von-uns-selbst“ jenseits eines entspannt-selbstwirksamen Erlebens.“

 

  1. Psychische Erkrakung bedeutet in dieser Perspektive (!) also, dass uns ein essentieller ‹Zwischenraum› abhanden gekommen ist. Dieser Zwischenraum ist unsere Sprache, die in uns körperlich als ‹Sprachlichkeit› verankert ist. Dabei geht weniger um die gedankliche / rationale / intellektuelle Kapazität der Sprache. Es geht vielmehr darum, dass die Sprache für uns zwischen Außen- und Innenräumen des Erlebens und der für ein entspanntes Erleben essentiellen Aufmerksamkeit ein Vermittlungsorgan sein kann. Wenn wir sie - die Sprache – in einer solchen Funkltion verlernt haben, werden wir, sehr wahrscheinlich, psychisch erkranken. 

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