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Wie “lebendig“ ist unser Leben? – Familie, Sprache und Digitalisierung

Die Dinge ändern sich in der digitalisierten Welt. Um genauer zu sein: die Kommunikation mit ihnen und ihr Vollzug. Wir benutzen “Apps“ (Anwendungen) um uns das Leben zu erleichtern. Aber tun sie das auch? Keine Sorge! Dieser Blog wird keine Kulturkritik. Das wäre zu schwer in einer Welt, die dermaßen auf Erleichterung aus ist. Und dabei alles erschwert!? 

 

Jeder Einzelne ist von der Digitalisierung betroffen und damit auch das System der Familie. Algorhythmen ziehen in unser Haus und in unser Hirn ein. Verstehen wir die Folgen für unser Familiensystem? Oder schwimmen wir einfach mit im Strom? Unwissend, ob wir Lemminge oder Lachse sind. 

 

Schauen wir uns ein wenig in der digitalisierten Realität um. Algorhythmen und ihre Anwendungen versprechen uns Hilfe. Erleichterung bei allen erdenklichen oder auch kaum vorstellbaren Notwendigkeiten des Lebens. Des Alltags. Oder der Freizeit. Und nicht zuletzt: des Wissenszuwachses. Die Frage aber, ob wir all diese Erneuerung in der “Anwendung von Wirklichkeit“ je wollten, geschweige denn sie “wirklich“ brauchen stellt(e) sich nicht. Jeder, der der Technik ausweichen will, wird ein Verlierer sein. Abgehängt. Kritiker oder Zweifler, sofern es sie gibt – sie weichen nur dem Leben aus, so scheint es – und bräuchten eine bessere ›Anwendung‹ für ihre kritischen Gedanken. Denn es sind ja nur Gedanken. Nichts Wirkliches: es sei denn, man wendet sie, diese Gedanken, eben irgendwo an. Ja vielleicht auch in einem sozialen Netzwerk, diesen perfekten “Apps“ sozialer Kognition und ihrer praktischen Anwendung. Praktisch!?

 

Die Flut der algorhythmisierten “Apps“ – sie sind präzise Anwendungen und automatisierte Anleitungen, um den Mehrwert unserer Gedanken in Planung oder ein virtuelles Durchspielen im “digitalen Tun“ umzuleiten. Ihre Tarnung ist gut bis perfekt. Denn scheinbar geht es immer nur um Praktisches und Nützliches – Anwendungen also, die die Organisation und Logistik des Lebens erleichtern. Der endgültige (und eben “praktisch“ erleichterte) Übergang in die analoge Wirklichkeit des Lebens ist aber m.E. gar nicht wirklich (!) gemeint. Vielmehr geht es um die ›Anwendung‹ der geplanten Wirklichkeit – ihre irgendwie-glitzernd und spielerische Ablenkung in eine vorweggenommene Durchführung. Es geht um schiere Virtualität. Deren Eintritt ist eben schon die Wirklichkeit, um die es wirklich geht. Wirklich?! 

 

Die eigentliche ›Tat‹, der Akt des Lebens, sie und er sind allenfalls ein wiederum angewendetes “Selfie“ wert. Oder es “passiert“ eine virtuelle Echtzeit-Mitteilung in den sozialen Netzwerken. Aber was heißt schon Echtzeit. Wo wir nicht einmal wissen, was die Zeit bedeutet, außer ihr organisches Vergehen: das “böse“ biologische Alter(n)! Dagegen steht das unermüdliche Sich-Selbst-Erneuern der (nur noch teilweise von Menschenhand gefertigten) Dinge – und ihre durchgeplanten Anwendungen. Dinge, die unsere Wirklichkeit zu sein beanspruchen und dabei selbst das “live-haftig“ und mündlich Gesprochene zu lebendig (weil wenig “anwendbar“) erscheinen lassen: Sprache ist mithin und zumeist auf der Retro-Seite der Biologie: absoluter “old-style-stuff“ im Vergleich zu den in ewigen Anwendungen digitalisierten Gedanken unserer sozialen Kognition. Eine Kognition, die via gesprochener Sprache nur noch im Gossip des Handy-Talks in der Öffentlichkeit angewendet (!) und durchgeführt wird. 

 

Was aber macht das alles mit der Sprache und Kommunikation in unseren Familiensystemen? Sprechen wir noch wirklich miteinander? Oder wenden wir Kommunikation lediglich an, um uns über (bevorzugt digitale) Kanäle bemerkbar zu machen? Uns mitzu-teilen? Mit anderen Worten: Ersetzt die digitale Kommunikation zunehmend unsere analoge Sprachlichkeit? Um hier nicht missverstanden zu werden: Mein Eindruck ist durchaus, dass unter Menschen (auch in Familien) mehr den je “gebabbelt“ wird, auch mittels ganz analoger gesprochener Sprache. Ich frage mich nur, ob die Digitalisierung nicht bereits auf unmerkliche Weise die besondere Qualität der analogen Sprache verändert hat. Wir denken, wir würden noch wie früher reden. Und reden längst ganz anders. Miteinander?! 

 

Denn natürlich verändert die Digitalisierung nicht nur unsere Wahrnehmung und unser Denken, sondern auch unsere Sprache und Kom-munikation. Wir glauben, wir seien noch “die Alten“, sind aber längst tiefgreifend in den Sog kognitiver Veränderung gerissen. Nicht umsonst ist im Jugendjargon die ironische Anrede “Hey Alter“ ein Dauerbrenner. Denn wir sind immer schon alt, überholt von der Technik und ihrer Unabhängigkeit von der Biologie des Alterns. Es geht um das Leben als Spiel seiner technischen Erneuerung, die gegen das Zwangsaltern der Biologie ent- und auf(er)steht. Ja, auch der Tod müsste im Sinne einer “Anwendung“ user-freundlich(er) werden. Könnte man meinen. Obgleich wir wissen, dass es irgendwie nicht so sein kann/wird. Noch nicht jedenfalls. Denn “Anwenden“ können wir nur die Dinge und ihre Kunst der An- oder Abwendung: mitten im Leben, nicht mitten im Tod. Oder reden wir hier doch (und in viel tieferem (Ab)-Grunde) von einer “lebensnahen“ Anwendung in der digitalen Abwendung des (oft zu bedrohlichen) Lebens und seines Todesfalls? 

 

Um dem System der Familie wieder näher zu kommen, sollten wir zunächst feststellen, dass es ein quietschlebendiges, nicht digitales System ist. Ein System, dass überwiegend auf Emotion, Bindung und ihrer Kommunikation beruht. Verändert sich nun unsere Kognition (und ihre Basis, die Wahrnehmung) durch die Digitalisierung, so wird sich auch unsere Emotion verändern. Denn Emotion passiert nicht unabhängig von kognitiven Prozessen. Sie ist zwar zunächst “nur“ eine biologische Expression, die uns hilft, unseren Körper wahrzunehmen und unser Verhalten besser an die Umwelt anzupassen. Wahrnehmung und Verhalten sind aber in ein kognitives Gesamtsystem eingebunden. Unsere Emotion ist somit eine Art körperlicher Agent, Supporter und Antagonist unseres stark kognitiv ausgerichteten Bewusstseins- und Wahrnehmungssystems.  

 

 

Wie also ändert sich unsere familiär gebundene Emotion durch die Digitalisierung unserer Wahrnehmung?  Meines Wissens gibt es hierüber noch keine Studien. Aber das Thema erscheint mir dringend anzustehen. Denn die Zahl der psychischen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen ist stark ansteigend. Und die Diskussion bzgl. der Digitalisierung schwankt meistens irgendwo zwischen Verteufelung und völlig naiver Bestätigung und Unterwerfung. Hier wäre u.a. auch eine genauere Diskussion um Werte, Lebensziele und systemische Gesundheit am Platz. Familien-Politik. Aber diese ist, nicht von ungefähr, noch immer eher ein Nebengleis der weit wichtigeren und “höheren“ Dinge, um die es zu gehen scheint. Aber um was geht es denn eigentlich, in der digitalisierten Welt? 

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