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Ist die (Klein)-Familie heutzutage noch ein gutes System?

Wir sind es gewohnt, die Familie (incl. alleinerziehender Familien) als Kern- und Keimzelle unserer Gesellschaft zu begreifen. Sie ist nach wie vor die Norm. Daran hat sich seit vielen Hundert Jahren wenig geändert, von den überwiegend gescheiterten Kommunen-Versuchen der 68-iger abgesehen: wenige reden noch davon, auch wenn “Rest-Werte“ dieser Gemeinschaften zB in den heute selbstverständlichen Wohngemeinschaften weiterleben. Oder in einigen generationenübergreifenden Wohnprojekten in Großstädten und auf dem Lande. Doch geht es bei diesen Modellen des Zusammenlebens heute nicht mehr darum, die Familie als Norm in Frage zu stellen. 

 

Eigentlich ist das erstaunlich. Denn die Familie transportiert wohl ungefähr seit der Sesshaft-Werdung des Menschen Werte, die unserem heutigen Leben nur noch in Teilen entsprechen dürften: Nicht umsonst ist sie als strukturelles Gebot (!) unseres Zusammenlebens oft Gegenstand der Diskussion zwischen konservativen und progressiven Kräften der Politik und Gesellschaft. In ihrer jahrtausende alten Geschichte hat die Familie allerdings immer Werteverschiebungen durchlaufen: So versuchte Kaiser Augustus († 14 n. Chr.) wenn auch eher erfolglos die verkommenen Sitten hinsichtlich Ehe, Scheidung und Geburtenkontrolle über Gesetze einzufangen (https://www.historyextra.com/period/roman/in-bed-with-the-romans-a-brief-history-of-sex-in-ancient-rome/ Link vom 01.08.2021). 

 

“Familie heute scheint ein freiwilliges, aus selbstbestimmten Motiven 

gegründetes System zu sein.“

 

Heutzutage scheint Familie ein System irgendwo im Nirvana zwischen bemühten Wertekorrekturen in der Kinder-Erziehung, Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern, Rollenbildern u.a. und rückwärtsgewandten Sehnsüchten nach den guten alten “romantischen“ Zeiten zu sein. Die es wohl so nie gegeben hat. Gleichzeitig ist der Reformstau des Systems Familie (den ich als Familientherapeut hier unterstelle…) wohl auch ein Ergebnis einer systemischen Geschichte von Familie, die noch immer tief von den monotheistischen Religionen und ihrem dominanten Aufkommen vor ca. 2000 Jahren geprägt ist. Zwar hat die Kirche über die letzten 150 Jahre entscheidend an Macht und Einfluss verloren: Familie heute scheint ein aus selbstbestimmten Motiven gegründetes System zu sein. Liebe und Freundschaft, so wie wir sie selbst (und nicht die Religion) uns in einer inneren Vorstellung entwickeln, sollen die Ausgangsmotivation von und für Familie sein – ihre sozusagen (“westlich“)-freiheitlichen Narrative. Aber ist das glaubwürdig? Haben wir eine Art Ersatzreligion gefunden, die in uns und um uns herum das System Familie rechtfertigt? 

 

“Diese Moral hat auch heute noch klare Konturen:“

 

Die Antwort ist schwierig. Zum einem erscheint es tatsächlich wenig glaubwürig, dass die alten Narrative von Macht und (sexueller, weiblicher, kindesbezogener) Unterdrückung sich in 150 Jahren herausgewaschen haben, nachdem sie mindestens 1500 Jahre vorherrschend und entscheidend bewusstseinsbildend waren. (Vergl. hierzu das sehr aufschlussreiche Buch “The weirdest people in the world“ von Joseph Henrich über die Kulturgeschichte des “Westens“.) 

 

Zahlen über das Vorkommen von häuslicher Gewalt, von emotionalem und sexuellem Missbrauch und all seinen gesellschaftlich geduldeten Übergangsformen1) sprechen eine andere Sprache. Diese Zahlen sind der quantitative und qualitative Widerhall einer Moral, die sich auch heute noch durch doppelte und mehrfache Böden auszeichnet, wie sie sich eben in der christlichen Religion ursprünglich herausgebildet hatten. Es mag im Detail (wie immer) komplizierter und nicht “schwarz-weiß“ gewesen sein. Aber diese eine Moral, die über einen spezifisch benannten Glauben bestimmte Vorstellungen von Macht, Familie und Beziehung etabliert, hat auch heute noch klare Konturen:

 

  1. Das äußere Bild (die Form, die Rituale, das Ansehen, die Rollenbilder, die Anreden) und das innere Bild (die inneren Erlebniswelten der Individuen und die Ereignisse hinter verschlossenen Türen) werden etablierter Weise nicht in Übereinstimmung gebracht; und das bedeutet oft: “außen hui, innen pfui“. Genauso dürfte und durfte es in der Kirche auch sein. 

 

  1. Für Rollenbilder zwischen Frauen und Männern (Müttern und Vätern) gibt es zwar viele “moderne“ Neuerungen (Väter auf Spielplätzen, Mütter in der Politik). Der vermeintliche Siegeszug der Gleichberechtigung hat aber den innerfamiliären Stress (und damit auch die psychische und physische Gewalt) wohl eher nicht verringert, so wenig, wie die allgemeine Chancengleichheit in der Gesellschaft eine sozial schichtenunabhängige geworden ist. Will sagen: der alte Dunst ist nicht abgezogen, sondern eher mit neuen Narrativen “parfürmiert“. Wenn Väter Kinderwägen schieben, heißt das nur bedingt, dass es dem System Familie besser geht. 

 

  1. Neue Modelle für Erziehung, Sexual-Erziehung, Körperbewusstsein, Macht-Ausgleich in der Familie bis hin zur religiösen und politischen Erziehung (die ja nicht nur Sache der Schulen ist) sind letztlich Mangelware, trotz der Flut von Ratgebern in Medien und einer insgesamt größeren Allgemeinbildung in Psychologie: Frauen und Männer wurschteln sich durch, gerade so als ob es die alles durchdringende Virulenz unserer christichen Bewusstseins-geschichte nie gegeben hätte. Wir vertrauen darauf, dass der Aufklärung des rationalen Bewusstseins im 18 Jahrhundert im 20 Jahrhundert eine Aufklärung unserer Psyche und unseres emotionalen Bewusstseins gefolgt ist. Sigmund Freud und die Psychoanalyse stehen dafür Pate. Aber diese neuen Ideen über die Psyche, sie blieben nach meiner Auffassung ebenso quasi-religiös wie letztlich paternalistisch und autokratisch. Deswegen ist wohl auch hier die Vermutung berechtigt: Viel mehr als eine Frischluftschneise an psycho-sozialer Aufklärung ist bisher nicht in die Familien eingezogen. 

 

Wer argumentiert, die systemischen Probleme der Familie seien nicht dem System Kleinfamilie gutzuschreiben, sondern gerade auch in Kommunen oder Clan-Strukturen, von Sekten ganz zu schweigen, ein Thema, der übersieht, dass die genannten heutzutage ebenso ein Produkt der beschriebenen (christlichen) Geschichte sind. Wir müssten schon in der Anthropologie (bei indigenen Formen des Zusammenlebens) suchen, um hier zu realistischeren Vergleichen zu kommen. Ob diese Vergleiche aber wissenschaftlich sinnvoll wären, ist fraglich. Denn indigene Kulturen (ich kann das hier nur unterstellen) haben dermaßen unterschiedlich determinierte Konzepte von Moral, Geschlecht, Emotion und Sexualität, Bindung und Körper, Aggression und Gewalt u. a., dass solche Vergleiche wohl kaum sehr zielführend oder hilfreich wären.

 

“Wir ziehen uns ins “Hyper-Subjektive“ einer 

familiär-individualisierten Entwicklungsbiografie zurück.“

 

Die Frage, ob ›Familie‹ heuzutage ein besseres System geworden ist, kann nur unter Schmerzen mit “ja“ beantwortet werden. Es scheint immerhin eine Art Understatement zu geben. Man ist sozusagen sozial-familiär-umweltbewusst, aber fährt dann doch gerne einen kleinen SUV (was immer das dann in übertragenem Sinn bedeutet!?) Wir schlucken noch ein bisschen, wenn die CDU für die Homo-Ehe gestimmt hat. Wir hypen (oder beschimpfen) das Gendern und verdammen (sic!) die Kirche, wenn sie Frauen nicht ins Amt lässt. Über die Ursprünge dieser Kulturkämpfe auch in uns selbst, in unseren Familien und Beziehungen wollen wir aber lieber nicht so viel wissen. Wir ziehen uns ins “Hyper-Subjektive“ einer (beliebig extrahierbaren) familiären Entwicklungsbiografie zurück und überlassen die Reparaturen den Therapeuten, die ebenso zu unserem individuellen Understatement geworden sind. 

Wir führen Sexualstraftäter, auch wenn sie aus Hollywoods Traumwelten stammen, im kollektiven Aufschrei auf das mediale Schafott und fragen uns scheinheilig, warum das alles so lange so geschehen konnte. In die (potentiellen) Übergriffs- und Missbrauchsgeschichten unserer eigenen Geschichte wollen wir nicht so gerne schauen. Der Übeltäter in der Medien-Guillotine reicht uns. Wir schauen also gerne nach außen, auf die böse Gesellschaft, die bösen Einzeltäter oder Verbrecherbanden. Zu den bösen und reformunwilligen Kirchen. Unsere Familien aber, sie sollen schon irgendwie gut sein. Und immer noch sind wir geradezu abhängig von dem Bild des “guten Vaters“ und der “guten Mutter“. Vielleicht hatten wir aber eben Pech mit Eltern, die (i. d. R. selbst Opfer gewesen) uns psychisch oder körperlich misshandelt haben. Das System Familie aber soll letztlich nicht schuld sein. Schuld ist das Individuum, als das eigentlich fehlbare. Auch hier winkt das Christentum freundlich, seine Dogmen, die sich bis in die (letztlich religiös konnotierte) Psychoanalyse und Psychotherapie fortgesetzt haben. 

 

“Systemische bedingte Gewalt interessiert nur Sozialarbeiter.“ 

 

Dass aber in einer bedrückend hohen Zahl von Familiengeschichten Gewalt systemisch über Generationen verankert ist, interessiert vorwiegend nur die Sozialarbeiter oder Famillien-therapeuten. Denn es gilt: Wie es innen beim Nachbarn aussieht, geht uns nichts an. Der Schutz unserer Privatsphäre steht im Vordergrund. Was auch gut so sein mag. Der Schutz unserer Privatsphäre bedeutet aber noch lange nicht einen Freifahrtschein, diese Privatsphäre als nicht-inklusiven Teil in der Schule, in der Politik außen vor zu lassen, wenn es um die Diskussion der sozialen Psychologie desjenigen Systems geht, das uns alle am meisten geprägt hat. 

Um es klar zu sagen: Was wir uns in Familien antun, ist, auch in den Grauzonen, wo das Kinderschutzgesetz- und Strafrecht noch nicht zugreifen kann, eben keine Privatsache. Es ist Sache einer gesamt-gesellschaftlichen Aufklärung. Und diese ist die Verantwortung von uns allen. Darüber nicht zu reden, sich aber über “me too“ oder Missbrauch in der Kirche aufzuregen, ist (leider Gottes…) scheinheilig. Nur wenn wir die Grauzonen unserer ureigenen Entwicklungsgeschichte mehr ins Bewusstsein des öffentlichen Diskurses holen, verhindern wir die systemische Gewalt, über die wir bislang auf eher wohlfeile Weise bestürzt sind. 

 

 

1)  Übergangsformen von Missbrauch sind ein bisher zu wenig beschriebenes Thema. Das hat m. E. auch damit zu tun, dass unsere Kultur eine gewisse Art von Grenzüberschreitung gutheißt oder zumindest gerne duldet: so zum Beispiel in der Flut an sexistischer Werbung, in Konsumgegenständen deren Kultstatus letztlich kognitive Passivität verschreibt, ebenso wie in der Unterhaltungsindustrie, die Frauen verdinglicht und Männer verdummt u.a. mehr. Übergangsformen meint damit: unsere emotionale, körperliche und kognitive Integrität wird durch dementsprechende Manipulationen auf eine Weise eingeschränkt, die uns zu willfährigen Opfern von potentiellen Übergriffen macht. Dass diese nach wie vor in der Mehrzahl in Familien stattfinden, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass wir uns in der Außenwelt selbst als ein Art von “Ware“ präsentieren müssen, um dann im Inneren der Familie Schutz zu suchen – und dort auf weitere Bedrohung stoßen, wenn das System Familie keine Aufklärung erhalten hat. 

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