· 

Ablösung und Trennung - eine systemische Intervention

Wann sollten wir uns trennen, voneinander lösen? Erstens sind ›Ablösung‹ und ›Trennung‹ verschieden bewertete Prozesse. Trennungen erleben wir als ungewollt oder bestenfalls notgedrungen “gemusst“. Ablösungen erscheinen uns als natürlicher, biologisch und kommunikativ notwendiger Prozess: Das Kleinkind muss und will sich irgendwann von der Mutter lösen. Dennoch hängen die beiden Konzepte des voneinander Wegkommens (man beachte das ineinander von “weg von“ und “hin zu“) enger zusammen, als oft vermutet. Denn wenn ich mich von einem Menschen trenne, muss ich mich von der inneren Vorstellung und Hoffnung lösen, die ich einst mit diesem Menschen verbunden habe. Ich muss ein inneres, mentales und emotionales Konzept, das mit einem anderen Menschen verbunden war, loslassen und finde mich mit mir selbst schlechtenfalls erstmal in einem Zustand der Orientierungslosigkeit, der inneren Leere ein.

       Letzteres ist vermutlich ein Grund, warum manche Paare sich trotz einer zerrütteten Beziehung nicht trennen. Die jeweiligen Partner wollen den ›Selbst-Entwurf‹ einer Beziehung nicht loslassen, sich ein Scheitern auf dieser existentiellen Ebene nicht eingestehen. Aber auch im Falle eines hochstrittigen Paares, das bereits getrennt ist oder sich trennen will, spielt das “Nicht-Loslassen-Können“ in der Regel eine große Rolle – und es geht im Grunde mehr um eine jeweilige innere (und nicht gerne vollzogene) Ablösung von einer Identifikation, einer Rolle, einem Selbst-Entwurf. Will sagen: Es geht im Grunde nicht so sehr um den Partner, der mich enttäuscht oder verletzt hat. Auch wenn diese nicht zu bestreitenden emotionalen Vorgänge dann gerne genutzt werden, um wiederum festzuhalten – nämlich an der Wut, an der Enttäuschung, an dem Bedürfnis nach Rache gar oder an dem Wunsch, es möge doch noch alles gut werden.

       Bei Jugendlichen oder jungen Erwachsenen wiederum, die sich nicht binden wollen oder können, spielt ebenfalls eine nicht vollzogene Ablösung eine Rolle. In der Regel werden hier nicht gelöste Bindungskonflikte mit den Eltern vermutet. Aber es könnte an dieser Stelle auch andere Gründe geben, die später, auf den Ebenen der Paarkonflikte, ebenfalls eine Rolle spielen können. Denn junge Erwachsene (im entwicklungspsychologischen Alter der Post-Adoleszenz zwischen 18 und 29 Jahren) benötigen den oben erwähnten “Selbst-Entwurf“ zunächst einmal, um sich ablösen und sozusagen positiv besetzt an einen eigenen Identitätsentwurf binden zu können. Ist dieser Selbst-Entwurf nicht gelungen, wird eine Ablösung von den Eltern schwer. Die Frage ist aber, ob dafür in erster Linie Bindungskonflikte ursächlich sind, d.h. Konflikte die aus einer zu großen Nähe (“Überidentifikation“) oder einer zu großen inneren Distanz (“Negative Projektion“ mit der Folge fehlender Ich-Stärke) resultieren. Oder könnten hierfür auch Probleme einer Selbst-Positionierung ursächlich sein, die im gelungenen Falle dafür sorgen würde, dass ›ich‹ weiß, welche Rolle mir im Familiensystem zugedacht war und ist und welche Position ich, resultierend aus dieser Rolle, im Leben einnehmen kann? Was aber wäre eine Rolle innerhalb einer Familie, die ich spiele? Welche Rollenbilder kann es in Familien geben, die mich tragen oder auch unter Druck setzen können?
    
       Da wäre die Rolle der Erstgeborenen* oder die Rolle des “jüngsten Kükens“, also Rollenbilder, die schlicht aus der altersgebundenen Abfolge der Nach-kommenschaft entstehen. Oder die Rolle des Einzelkindes, auf dem viele Hoiffnungen und Ängste ruhen. Es gäbe auch die Rolle der Thronfolgerin* und des in dieser Hinsicht eifersüchtigen Konkurrenten* oder die Rolle des “Revoluzzers“, also derjenigen*, die die Werte und Narrative der Familiengeschichte anzweifelt oder neu aufstellen will. Es gäbe die Rolle der Nestflüchterin*, die vielleicht schon mit 16 Jahren ausziehen will und die Rolle des Nesthockers*, der mit über dreißig immer noch fest gebunden zu Hause weilt. Da wäre auch die Rolle des Schwarzen Schafes oder des hochbegabten Wunderkindes, des familiären Überfliegers. Und das alles ist auch abhängig davon, ob wir uns in einer individualistisch ausgeprägten Kultur befinden oder eher in einem kollektiv ausgerichteten System, wo schon aufgrund dieser Ausrichtung die einzelnen Mitglieder zu einer hohen Loyalität gegenüber der Familie verpflichtet sind.

           Ob und inwiefern diese Rollenübernahmen mit Bindungsmodellen verflochten sind, sei zunächst einmal dahin gestellt. Spannend wird es, anzuschauen, wie solche familiären Rollenbilder das Thema der positiv besetzten Selbstidentifikation beein-flussen. Denn bleibt eine Rollen-Übernahme unklar und die damit verbundenen Scripte (als Texte der Rollen-Beschreibung) diffus oder unzureichend beschrieben, schwankt ein nachkommendes Familienmitglied möglicherweise zwischen forcierten Ablösungen und Verschmelzungen, um dieses Beschreibungsdefizit zu kompensieren. Es entwickelt Verhaltensauffälligkeiten oder psychische Belastungen, die daraus resultieren, das weder Ablösung noch innere Verbundenheit ausreichend erfolgen können, weil eine eigene Positionierung im Gefüge der familiären Erzählungen nicht möglich erscheint.

               Anders ausgedrückt: es gibt keine Rolle, die für diesen Nachkommen passend erscheinen will. Übernahmen von Werten und/oder Emotionen sind aus vielerlei Gründen erschwert, berufliche Vorbilder nicht attraktiv oder zu überfordernd. Die Identifikation mit Vorbildern will nicht gelingen, weil die Vorbilder entweder negativ belastet oder übermächtig in positiven Konnotationen (“Problem der hocherfolgreichen Eltern“) sind. Vielleicht haben aber auch Geschwister oder weitere Mitglieder der näheren Verwandtschaft bereits alle Plätze besetzt, die sich scheinbar aus dem Erzählungsgefüge der Familie ergeben könnten: Hier gäbe es keine Sinnfindung mehr, die diesem Familienmitglied noch unbesetzt erscheint, um selbst an dieser Geschichte weiterzuschreiben. Die eigene Sinnfindung will nicht gelingen und infolgedessen kann es Ablösungsprobleme von der Familie geben. Denn schließlich ist es besser, im Sinngefüge der Familie mitzuschwimmen, als allein und ohne Möglichkeit der Selbst-Erzählung im Leben umherzuirren.

“Ursprung bedeutet nicht zwangsläufig Ursache…“

Voraussetzung für diese Konzeption der familiären Rollenübernahmen ist die Annahme, dass unser Bewusstsein und unsere Selbst-Erzählungen in den Familien-geschichten ihren Ursprung haben: Wir sind alle in unserem Selbst Fortschreibungen mehr-generationaler familiärer Entwürfe, deren Stichhaltigkeit und Erfolg in der Gesell-schaft abgeglichen und gemessen wird. Aber: Ursprung bedeutet nicht zwangsläufig Ursache. Hier stoßen wir auf den hochempfindlichen Kern der Ablösungs- und Trennungsthematik. Denn einerseits bin ›ich‹ zweifelsfrei die Ursache meiner Selbst, sobald ich ein gewisses Alter erreicht habe, wo ich dieses Selbst stabil identifizieren und ausprägen kann. Was aber passiert, wenn diese Identifikation schon in einem sehr frühen Stadium der Entwicklung nicht stabil erfolgen konnte (aus welchen Gründen auch immer…)? Dann passiert, dass ›ich‹ nicht mehr die Ursache meiner Selbst bin, sondern die anderen Ursprung (Eltern…) und Ursache meines Selbst bleiben und zunehmend werden. Das hört sich “crazy“ an. Aber es ist, leider, eine Konsequenz, denn wir sind als Menschen nicht in der Lage, ohne Identifikation unseres Selbst zu existieren (jedenfalls wären wir dann schwerstbehindert und auf konstante Hilfe angewiesen).

  “Das eigene Selbst erfindet sich in den Anderen, in dem es eine reale Form des Bezuges zu diesen vermeidet…“

Erfolgt also die Selbst-Identifikation nach außen gerichtet, also in Abhängigkeit von den nächsten Bezugspersonen und ohne Entwicklung eines eigenen Selbstbildes, kann natürlicherweise auch keinerlei Ablösung erfolgen. Denn ich brauche die anderen Personen ja, um mich selbst auch weiterhin identifizieren zu können. Gleichzeitig werden sich dennoch paradoxe Prozesse einer zwanghaften Selbst-Findung entwickeln, die die misslungene Projektion auf das eigene Selbst kompensieren: Es erfolgen fortwährend Ablösungen und Trennungen von den anderen Menschen, die keine solchen sind, sondern die Ablösung in einer weiteren Nicht-Lösung thematisieren: Das eigene Selbst erfindet sich in den Anderen, in dem es eine reale Form des Bezuges zu diesen vermeidet – womit sich der Kreis zur Bindungsthematik wiederum schließen würde.

 

Bindung erscheint allerdings aus dieser Perspektive als Ergebnis einer positiv erfolgten Rollenübernahme in einem komplexen Erzählstrang menschlicher Bezugs-systeme. Diese Bezugssysteme sind, anders als in der Bindungspsychologie normalerweise vermutet, nicht nur emotional gesteuerte Selbst-Orientierungen. Sie sind ebenso Resultat von vielen Erzählungen des familiären Lebens, die eine positive Selbst-Identifikation erlauben oder diese manchmal gänzlich verhindern.
   

Kommentar schreiben

Kommentare: 0