Struktur und Emotion

 


Was hat Struktur mit Emotion zu tun? Wer dazu keine Vorstellung hat, begebe sich in eine Kathedrale und wenig später in ein Gewirr aus Altstadt-Gässchen mit vielen Menschen. Und setzen wir uns abends (sei es nur gedanklich) noch unter einen Sternenhimmel im Süden Europas. Räume, die sich Menschen erschaffen oder die ihnen von der Natur gegeben sind, beeinflussen unsere Selbst-Wahrnehmung. Diese beeinflusst unsere Emotion. 


Anders ausgedrückt: Sind sie schon mal in einer Kirche wütend geworden, während sie intensiv den Raum um und über sich wahrnehmen? Vermutlich ist das nur möglich, wenn wir in diesem Moment unsere Wahrnehmung durch Gedanken überlagern, z.B. über die Verfehlungen der Kirche durch die Jahrhunderte. Dann wäre der Sternenhimmel wohl die bessere Wahl für sie. Würden sie hier in Wut ausbrechen? Vielleicht, wenn der mit anwesende Partner in diesem Moment eine unpassende Bemerkung macht. Gefühle werden oft genug durch Sprache und Gedanken ausgelöst, nicht unbedingt durch den wahrgenommenen Raum um uns herum. Sitze ich allein unter dem Sternenhimmel, wird meine Wahrnehmung (sofern ich nicht akut unter Depressionen leide) wahrscheinlich die Gefühle in “ihrem Sinne“ lenken – und eine innere Ruhe, ein Erstaunen, vielleicht sogar Liebe und Zuversicht entstehen lassen. 

 

Orte beeinflussen also unsere Wahrnehmung, die unsere Emotion beeinflusst, anders, als Sprache oder Gedanken das tun. Und Orte haben in Raum und Zeit eine Geschichte, die ihre jeweiligen Ordnungen und Strukturen geschaffen hat. Leben wir in einem Land, wo die öffentliche Ordnung und Struktur des Lebens labil sind, gar außer Kontrolle, werden wir Ohnmacht und Angst erfahren, wenig Freude oder Zuversicht. 

 

Auch die Familie ist ein Ort, deren Raum sich in der Familiengeschichte geordnet und strukturiert hat. Zwar nicht architektonisch, wie unter dem Dach einer Kirche. Der familiäre Ort strukturiert sich durch ›Bedeutungsräume‹ aus Sprache, Wahrnehmung und Emotion. Sie wurden in Generationen als Wertesystem entwickelt, im Zusammenspiel mit dem Wertesystem der Gesellschaft. 

 

Leichter zu verstehen ist der Begriff von Ordnung und Struktur in Familien, wenn man an autoritäre, patriarchalisch orientierte Familien denkt. Die Macht des Vaters schuf eine klare Rollenverteilung, die sich als Struktur und Ordnung weiter transportierte: Jeder hatte seinen Platz und wusste sozusagen, was er oder sie zu tun hatte. Das mag uns heute fremd und nicht mehr sympathisch erscheinen. Und in einem großen Teil deutscher Familien dürfte sich die frühere Strenge der innerfamiliären Ordnung aufgelöst haben – zu Gunsten weicherer Rollenmodelle, weniger Hierarchie und Macht und einer Kommuni-kation, die mehr die Augenhöhe sucht. 

 

Was ist aber in diesen Fällen mit der ›Struktur‹ passiert? Wie finden die einzelnen Familienmitglieder ihren Platz im System, ohne sich dabei laufend “anzu-stoßen“ an anderen, die denselben Platz für sich beanspruchen? Sind hier nicht Konflikte vorprogrammiert, weil die “Ordnung“ nicht mehr vorgegeben ist, sondern ständig neu hergestellt oder wieder aufgelöst werden muss? Was passiert, wenn die Rollen, Plätze und Autorität (wer hat das sagen…) nicht mehr festgelegt sind? Ergibt sich dann von alleine eine neue, sozusagen natürliche Struktur im “natürlichen“ Spiel der Kräfte? Mir ist ein solcher Prozess in Familien eher nicht bekannt. Vielmehr scheinen sich m.E. folgende Prozesse abzuspielen, die sich in ihrer Verschiedenheit nicht ausschließen, sondern oft auch parallell stattfinden: 

 

– Die früheren (Macht)-Strukturen werden unbewusst weiter etabliert und durch einen “verstehenden“ Dialog maskiert. Vater ist der “alte“, aber es ist nicht mehr so unhinterfragt und manifest wie früher. 

 

– Mütter übernehmen den früheren Vater-Part, ohne dabei ihre neue Führungsrolle klarer zu definieren. Sie haben einfach “übernommen“. In diesem Fall wirken nach wie vor starke Rollen- und Machtstrukturen, allerdings mit anderer Kommunikation und veränderten Geschlechterrollen. Die “Befehlsgewalt“ des Vaters wurde an die Handlungs-macht der Mutter übergeben. Dadurch werden Strukturen weicher und Ordnungssysteme durchlässiger. Allerdings ist der Kraftaufwand für die Mütter oft immens. Und die Väter verschwinden in unklaren Rollenbildern, werden nicht selten ganz aus dem System gedrängt. 

 

– Eine relativ große und spürbare Strukturlosigkeit im Inneren der Familie wird zunehmend durch Steuerungen und Strukturen von Außen ersetzt: Handys, Computer-spiele, soziale Netzwerke und (Internet)-Fernsehen. Es ist hier nicht schwer zu erahnen, dass gerade letzteres eine Flut von Problemen nach sich ziehen kann. Denn die fehlende kommunikative Struktur im Inneren der Familie wird durch eine Außensteuerung von Technik und digitalisierter Gesellschaft ersetzt. Was folgt ist eine strukturelle Desorgani-sation und die Auflösung von aufeinander bezogener Kommunikation in der Familie. Folgen davon sind psychische und kommunikative Probleme. Diese haben im Kern mit einer Desintegration von Wahrnehmung und Emotion zu tun. 

 

Wenn wir als “moderne“ Familie also die früheren Rollenbilder und autoritär veranlagten Strukturen verständlicher Weise ablehnen, brauchen wir aller Vermutung dennoch eine “emotionale Ordnung“ im System, die jedem Familienmitglied einen klaren Platz zuweist. Das ist zumindest meine Vermutung. Nur durch diesen emotionalen Rahmen kann ein Gefühl von Sicherheit und Verbindlichkeit entstehen, der wiederum die Basis für eine gelungene Kommunikation bildet. 

 

 

Eine auf der Lebenserfahrung der Eltern beruhende Emotion kann die Willkür der früheren autoritären Gewalt von früher durch eine Klarheit des Ausdrucks, der sich mit anderen verbinden will, ersetzen. Positive Autorität setzt sich nicht mit der Willkür der Gewalt, sondern mit der Verbindlichkeit einer Erfahrung, die Wahrnehmung, Emotion und Denken zu einem sinnvollen Ganzen verbinden kann. Familien brauchen Emotion. Nicht um sich zu bekämpfen oder einander zu unterdrücken, sondern um sich Klarheit, Halt und Geborgenheit zu geben. 

 

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