das ›selbst‹ hat (k)ein ›ich‹ – über eine (dis)soziative Paarung

 

Persönlichkeit und Charakter sind Begrifflichkeiten, mit denen wir das Individuelle eines einzelnen Menschen be- und umschreiben können. Gibt es einen Unterschied zwischen beiden? Wir können vermuten: Die ›Persönlichkeit‹ umfasst das ganze System eines Menschen: seine Familiengeschichte, den Lebensweg, seine kulturelle, soziale und sprachliche Ausdruckswelt und Ausdrucksfähigkeit. 

Der ›Charakter‹ wird in der psychologischen Forschung u.a. mit den “big five“ erfasst (Auch OCEAN-Modell genannt): Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit, Neurotizismus. Er beschreibt mehr die individuelle sozial-kommunikative Veranlagung eines Menschen. 

 

Mir kommen diese 5 “Geschwister“ einerseits zu allgemein, andererseits schon zu speziell vor. Und neuere Forschung widerspricht dieser Einteilung mit einem anderen 4-er-Modell – 

 

(https://www.sueddeutsche.de/wissen/psychologie-persoenlichkeitstypen-1.4133009

 

das mich beim ersten Lesen leider auch nicht sehr überzeugt. Deswegen sei hier eine systemische Einordnung versucht, unter Zuhilfenahme der Begriffe ›selbst‹ und ›ich‹. Denn vielleicht drückt sich der Charakter eines Menschen mehr durch sein ›ich‹ aus: Ich bevorzuge dies und das, ich nehme die Welt so und so wahr, ich bin ängstlich/mutig/lebhaft etc.., während die Persönlichkeit sich mehr in dem Begriff des ›selbst‹ findet, das durch sämtliche biografischen Kontexte ebenso wie durch Narrative der aktuellen Lebenswelt und viele andere familiäre, private und berufliche Umstände ausgeprägt wurde und wird.  

 

Wir könnten auch sagen: Das ›selbst‹ ist der systemische Anteil unserer Person, während das ›ich‹ mehr der psycho-kommunikative (sich “verhaltende“) eben den Charakter ausprägende Teil unserer Personenbeschreibung ist. Persönlichkeit (oder vielleicht sogar besser: Personalität) und Charakter verhalten sich dabei sozusagen durch ein ›ich‹ in unserem ›selbst‹ – und sind dabei durchaus auch Antipoden mit unterschiedlicher Gewichtung je nach Lebensalter eines Menschen. 

 

Eine Hypothese: Das ›ich‹ ist in Kindheit, Jugend, Adoleszenz und Postadoleszenz bis hin zum frühen Erwachsenenalter Anfang der 30-iger ein durchaus bestimmender Agent der internen und externen Kommunikation eines Menschen. Danach, etwa zwischen 35 und 70 Jahren, gewinnt ein “Ausleben“ von weiter gefassten Einflüssen auf die Persönlichkeit die Oberhand, und drängt das vorlaute ›ich‹ etwas zurück. Im höheren Alter finden wir oft skurile Mischungen aus den beschriebenen Gegenspielern. Eine weitere Vermutung wäre: Wir können, egal welchen Alters, nie wirklich beides sein, ein Agent eines integrierten und ausgewogenen ›selbst‹ und ein vorwärts (oder rückwärs…) drängender Agent des ›ich‹, unseres Egos! Das mag damit zusammenhängen, das ›ich‹, um sich durchzusetzen, und sich einen Vorteil im Leben zu verschaffen, stark filtern muss, sich gewissermaßen in einen Tunnel des ›ichs‹ begeben muss, um nicht durch zu viele und überreflektierte Handlungs- und Entscheidungsoptionen eines eher zur Abwägung neigenden ›selbst’ abgelenkt und möglicherweise ausgebremst zu werden. Das ›ich‹ muss immer wieder ein Stück weit in die archaische Position des Überlebenskämpfers “regredieren“, um den eigenen Vorteil nicht aus den Augen zu verlieren.  Ein mehr am ›selbst‹ orientierter und im ›selbst‹ integrierter Mensch wird mehr das Ganze, und die Kooperation mit den anderen Menschen im Blick haben, als allzu vorschnell nur den eigenen Vorteil, den ihm das ›ich‹ suggeriert. Der ja im Zweifelsfall nicht unbedingt ein langfristiger Vorteil sein muss. 

 

Auf der Verhaltensebene könnte man das ›ich‹ am schnelleren Handlungsimpuls (u. U. auch schnelleren Sprachimpuls) und einer eher emotional gefärbten Kom-munikationslage ausmachen. Während das ›selbst‹ sich eher rational-abwägend, situativ-reflektierend äußern und als solches dann erkennbar würde. Natürlich sind das abstrakte Kategorisierungen, die in der Realität in vielen Übergangszuständen ihre Ausprägung finden. Auch wird es auf der neurologischen Ebene keine Gehirnregionen geben, denen das ›selbst‹ oder das ›ich‹ zugeordnet werden kann: Beides sind Konstruktionen unseres Bewusstseins, die (ebenso wie Gefühle) ausschließlich durch die Kultur, in der ein Mensch lebt, bestimmt werden. Im asiatischen Raum werden das ›ich‹ und ›selbst‹ eine ganz andere Abgrenzung erfahren, sofern sie dort überhaupt als getrennte Begrifflichkeiten auszumachen sind. Denn das ›ich‹ als Agent unseres Charakters und unserer Personalität ist auch eine stark westlich geprägte Bewusstseins-konstruktion, die in andere Kulturräumen meiner Vermutung nach mehr und auf andere Weise in den Begriff des ›selbst‹ integriert ist. 

 

In unserer Kultur jedenfalls kann das ›ich‹ kann mit dem ›selbst‹ durchaus auch in Konflikt stehen. Etwa, wenn einem die Selbstachtung es eigentlich verbieten würde, in einer eher destruktiven Beziehung zu bleiben, aber das ›ich‹ keinen Weg sieht, sich ›selbst‹ wirksam zu schützen, in einen Zustand der Selbstfürsorge zu kommen. 

Und wir können an dieser Stelle mit Erstaunen bemerken, wieviele Wörter die deutsche Sprache mit dem ›selbst‹ verbindet: Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen, selbstverständlich, Selbstliebe, Selbstfindung, Selbstheilung, Selbst-Ironie, Selbst-wirksamkeit, Selbstsicherheit und andere mehr. Offenbar haben sie alle etwas mit unserem Bewusstsein zu tun, welches das ›ich‹ in einen größeren Kontext und in weiter gefasste Wertesysteme einbinden will, in dem es mittels der Sprache Kategorien schafft, die helfen, unserer systemisch-sprachlich erfassten Personalität einen Rahmen zu bauen. 

 

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0