Autonomie und Abhängigkeit aus systemischer Sicht

Der Mensch ist ein Wesen, das Zusammengehörigkeit und Kooperation sucht. Er sucht Liebe und Freundschaft ebenso wie Eingebundenheit und Zugehörigkeit. Diese Suche und eine ihr folgende Ausrichtung der Kommunikation zwischen Menschen dürften wohl rund um den Globus ausgeprägt sein. Dennoch üben die unterschiedlichen familiären, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Strukturen einer Gesellschaft natugemäß einen großen Einfluss darauf aus, auf welche Weise die Kommunikation der sozialen Zusammenhänge und des Zusammenlebens umgesetzt werden.

    Unser westliches Gesellschaftssystem ist zutiefst von der Vorstellung der Individualität und der persönlichen Freiheit eines Menschen geprägt. Auch wenn es eigentlich auf der Hand liegt, dass beides keineswegs Naturzustände sind, sondern hart umkämpfte Ausprägungen eines Menschenbildes und seiner Geschichten (“Narrative“), die über Jahrhunderte in sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Revolutionen geformt und umgeformt worden. Man denke nur an das Wahlrecht der Frauen (siehe der Film “Göttliche Ordnung“ derzeit in den Kinos).
   
    Die Geschichten von und über uns selbst, die über Jahrhunderte in einem kollektiven Prozess erzählt wurden, verankern sich in unserem Bewusstsein. Sie werden zu unserer inneren Normalität, unserer individuellen Selbst-Definition. Und selbstverständlich vergessen wir, wie wenig “individuell“ diese inneren Bilder und Konzepte von uns selbst eigentlich sind. Wir wähnen uns als Erfinder unseres ›Ichs‹, und verschweigen beflissen, dass wir das eigentlich gar nicht wissen können: wie es wirklich dazu kommt, dass wir ›wir‹ sind. Wie sagen sie beim FC Bayern so schön: “Mia san’ mia…“.
   
    Nun hat ein Fussball-Verein noch eine recht klare und übersichtliche Geschichte, die zu kollektiven Identitätsprozessen führen kann. Diese würde kaum einer als hyper-komplex beschreiben. Schwieriger wird es bei der Zusammengehörigkeit in einer (oder mehreren…) Nation(nen)  und in ihren kleinsten Keimzellen, den Familien. Familiengeschichten reichen in aller Regel über Generationen zurück und tragen die unterschiedlichsten, verrücktesten und emotional aufgeladenen Geschichten in ihrem Erinnerungsgepäck.

    Solche familiären ›Erinnerungen‹ werden in Form von emotionalen Anlagen, Talenten, Neigungen und Charaktereigenschaften weitergegeben, genetisch und epi-genetisch. Letzteres findet durch strukturelle Muster der Kommunikation und ihre Verhaltensausprägungen statt. Diese werden von Generation zu Generation starken Veränderungen und Weiterentwicklungen unterworfen. Veränderte Kommunikations-Muster können hierbei inner-familiär ausgelöst worden sein oder auch stark durch gesellschaftliche Veränderungsprozesse der Kommunikation hervorgerufen sein (siehe Wahlrecht der Frauen…) Oft aber sind innere und äußere Veränderungen auch verwoben und bedingen sich gegenseitig.

    Empfinde ich mich ›selbst‹ in dem Geschichten-Ozean aus Familiengeschichte, gesell-schaftlichen Veränderungsprozessen und Selbst-Definition nur als ein Stück Treibholz, zutiefst abhängig von dem Gesamtsystem, oder gelingt es mir, eine eigene Geschichte zu erzählen, die zum schillernden Spiegelbild aller Einflüsse und Möglichkeiten wird, die mir gegeben wurden? Bin ich in der Lage, ein Gefühl von Steuerungsfähigkeit zu entwickeln, nachdem ich mich selbst erkennen und entwickeln konnte? Kann ich “befreit aufspielen“ und mein eigenes Drehbuch entwerfen? Ein Drehbuch, wie ich leben will, bezogen auf andere und gleichzeitig bezogen auf mich selbst? Oder fühle ich mich zutiefst abhängig von vielleicht erdrückend wirkenden Umständen?

    Es geht hier nicht um die viel beschrieene Selbst-Optimierung oder eine narzisstische Ich-Bezogenheit. Letztere schießen sich selbst ins Aus, wenn wir die weiter oben benannten Zusammenhänge Ernst nehmen. Narzisstische Störungen sind das Ergebnis von Persönlichkeits-entwicklungen, die die Verwobenheit von Individualität und Kollektivität nicht mehr wahrnehmen und fühlen können. Das ›Ich‹ hat sich als bizarres Trugbild in eine Wahnvorstellung hineinmanövriert. Und erfüllt teilweise erschreckende Aufträge im vermeintlichen Sinn des Ganzen: Amokläufe, Terror und erweiterte Suizide sind ein Symptom solcher mittlerweile global herausentwickelten Störungsbilder von Selbst-Konzepten.

    Die Anerkennung der systemisch bedingten Abhängigkeit ist ein großer Schritt in Richtung psychischer Gesundheit. Unsere innere Autonomie kann nur auf der zutiefst bejahten Abhängigkeit von anderen beruhen. Einer positiven Abhängigkeit, nicht einer die in Selbst-Destruktion mündet oder den (im tieferen Sinn) nicht zu gewinnenden Konkurrenzkampf gegen andere.

    Destruktion durch Abhängigkeit findet dort statt, wo eine (oft verzweifelt bemühte)  Selbst-Definition andere Menschen unbedingt braucht, um sich gleichwohl unabhängig und stark zu fühlen. Dieses Paradoxon führt schnell zur psychischen Erkrankung. Ich kann nur dort positiv abhängig sein, wo der andere mein ›ich‹ ergänzt und erweitert, nicht aber substantiell zur Eigen-Definition beitragen muss. Mütter (oder Väter…) die sich beispielsweise zu stark über ihre Kinder definieren, fügen dem Gesamtsystem der Familie meist Schaden zu, ihrer eigenen psychischen Gesundheit ebenso wie der ihrer Kinder. Das Gefühl meines ›Selbst‹ schließt die absolute Unabhängigkeit anderer von mir ein, im Wissen, dass sie mich wollen und “brauchen“ wie ich sie auch. Den anderen zu wollen und zu brauchen, heißt nicht, ihn in unlösbare Identitätsverstrickungen hineinzulotsen.

    Identität ist zwar ein kollektiver Prozess, auch in der Familie, aber er schließt die Autonomie des einzelnen Menschen in seiner komplexen Verwebung mit anderen ein. Autonomie meint die wollende und liebende Bezogenheit in einer unmissverständlich klar empfundenen Freiheit, dabei ›ich-selbst‹ zu sein. Das ist das dialektische Gefüge unseres Zusammenlebens. Wir können uns nur definieren, indem andere das auch tun. Sie helfen uns dabei, ohne uns gleichzeitig daran zu hindern.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0