Der Blick auf den/die Andere(n) – welche Macht er uns gibt und in welche Ohnmacht er uns versetzt

Unlängst las ich eine Anmeldung zu einer Therapie. Auf dem Anmeldebogen waren verschiedene Fragen zu beantworten, u.a. auch die, ob die Therapeutin* eine Frau oder ein Mann sein soll. In dem betreffenden Anmeldebogen gab es einen Zusatz: “Bitte keinen weißen alten Mann“ – ein Hinweis also auf das Narrativ der Gender-Bewegung, nach dem alte weiße Männer nach wie vor die Herrschaft über die Welt ausüben, egal ob es um Ökonomie, um Familien, um Politik oder (christliche) Religion geht. Als mir dieser Zusatz vorgelesen wurde, brach ich etwas unvermittelt in Lachen aus. Ich weiß nicht, ob es einfach die Überraschung war oder das paradoxe (sich im Lachen entladende) Gefühl der Verzweiflung. Oder auch eine starke kognitive Dissonanz darüber, dass der (berechtigte) Gender-Diskurs auf diese Weise in die Anmeldungen zu einer Therapie einbricht.

    Schließlich bin ich selbst  (58) genau das: ein (relativ) alter, ethnisch gesehen weißer, Mann mit ebenso ergrauten (teilweise weißen) Haaren.

    Ungeachtet der Richtigkeit der harten Diskussion über das “weiße“ Herrschafts-Narrativs stellt sich mir ganz grundsätzlich die Frage, wie ich denn “politisch korrekt“ auf andere Menschen schauen soll. Welchen Blick soll ich, gerade mit Blick auf dieses Narrativ, auf mich selbst und auf andere Menschen haben? Und sollte ich mich durch die oben beschriebene Anfrage mit den klar benannten Exklusions-Kriterien nun selbst diffamiert / exkludiert fühlen?

    Manchmal wünschte ich, es gäbe eine KI (künstliche Intelligenz), die uns offenlegt, welche Vorurteile in uns selbst bei jeglichem
Blick auf andere Menschen in wenigen Sekunden ablaufen. Ich schaue zum Beispiel auf das Geschlecht meines Gegenübers und schon bin ich, mehr oder weniger unausweichlich, in einer ganzen Abfolge von Vorannahmen, Klischees, gesellschaftlichen Codes und familiär geprägten Narrativen gefangen. Kein Entkommen möglich, so scheint es. Nehme ich dann äußere Faktoren wie Kleidung, soziale (möglicherweise ersichtliche) Herkunft, Alter (sic!), Gewichtsklasse (Verzeihung für die Ironie…), Sprach- und Verhaltensduktus und vieles andere mehr hinzu, so scheint es wiederum, dass ich unentrinnbar eine Gefangene* von Äußerlichkeiten bin, die mein Urteil lenken, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Kein Entkommen möglich. Oder doch?

    Zunächst hilft vielleicht ein wenig Dialektik. Denn merkwürdiger Weise entwickelt sich nicht nur alles Schlechte, welches ich konsequent fortführe, in die “Hölle“ (oder in den Stillstand, die Zerstörung, das Patt, whatever…), sondern auch das Gute: führe ich zB den Gedanken des Egalitären, der Gleichheit unter Menschen, konsequent zu Ende, würde ich in einem fragwürdigen Utopia aufwachen: alle oben genannten Äußerlichkeiten wären zwar egalisiert. Aber würde ich in Erwartung einer paradiesischen, harmonischen Welt nach draußen schauen, gäbe es vielleicht eine böse Überraschung: Die Menschen würden sich gewalttätiger denn je untereinander bekämpfen, um mit allen Mitteln schnell wieder eine Ungleichheit untereinander herzustellen. Warum?

1. Weil Veränderung (zum Guten) voraussetzt, dass ich vorher eine Differenz ausmachen konnte, für die ich Kriterien und Kategorien herstellen muss. Wären alle “äußeren“ Ungleichheiten verschwunden, müssten wir, um uns weiter verändern zu können, die Abwei-chungen in unserem Innenleben suchen (das passiert in manchen Lebenswelten bereits, mit teils erschreckenden Verwerfungen – wir analysieren uns gegenseitig “zu Tode“). Der Blick auf das ungleiche Innenleben hätte aller Voraussicht nach noch viel fatalere Folgen als die ungerechten Unterscheidungen, die wir je im Außen treffen mussten . Wir wären in d e r Hölle angekommen, wo wir in einer totalen Gedanken– und Verhaltensbeobachtung anderer Menschen gelandet wären. Orwells neue Welt wäre eine Wellness-Party dagegen. Und dies alles nur, weil wir die äußeren Unterschiede egalisiert hätten.

2. Wenn wir als Menschen nichts mehr “Gutes“ in der Zukunft vermuten würden, um das wir kämpfen müssten, wäre die “logische“ Folge, dass wir das Schlechte suchen müssen, um uns von dort aus wieder zu verbessern. Wir Menschen sind aller Vermutung nach nicht für ein Paradies geschaffen, jedenfalls nicht eines auf dieser Erde.

    Das mag überspitzt erscheinen. Schließlich sind wir ja von einem solcher Maßen überanstrengten Ziel noch Lichtjahre entfernt. Aber ist nicht bereits der Weg zum Ziel (“der Weg ist ja das Ziel?!”) bereits von der Vorstellung der möglichen Utopie vergiftet?

    Nun sollte es  in diesem Beitrag (eigentlich…) nicht um “Gut oder Böse“ gehen, sondern um den für uns alle unvermeidlichen Blick auf das Andere am Anderen*, der uns auferlegt ist. Will sagen: ich benötige, um mich selbst zu orientieren, einen differenzierenden Blick nach Außen. Ich muss Unterschiede herstellen, die wirklich Unterschiede bedeuten – statt in einer irreführenden Welt der Schein-Variation des Immergleichen zu landen – einer Welt, die mir zunehmend psychische Probleme bereiten würde.

    (…Wem das zu abstrakt erscheint, der möge in die sozialen Medien des Internets schauen: die Gewaltätigkeit der Sprache dort ist eine, die präzise darauf beruht, dass Unterschiede nur noch als “Schein-Diskurse“ vorstellbar sind. Jeglicher Kommentar, jegliche Bilder, jegliche Meldungen dort signalisieren unserem Unterbewussten: Hier handelt es sich nicht um wirkliche Unterschiede, sondern um Variationen der immergleichen Illusion eines Unterschiedes, der keinen Unterschied macht. Es spielt keine Rolle, ob ich hierzu “Muh“ oder “Mäh“ sage – die Welt draußen, sie dreht sich sowieso nach ganz anderen Gesetzen. Allein das reicht aus, um Aggression und Hass unter den Ohnmächtigen vor den Bildschirmen zu produzieren. Der Blick auf das “Andere“, er gelingt im Netz nicht oder nur völlig unzureichend. Denn ich schaue auf ein “Anderes“, was kein Anderes ist, sondern nur das Zerrbild oder das verzerrte Echo meiner Selbst. Es gibt kein Gegenüber, welches auf seine Differenz hinweist. Das Internet simuliert (und stimuliert) vermeintliche Gleichheit und bedeutet die reale Gewalt vollkommener Ungleichheit. Es gibt die Ohnmächtigen vor den Bildschirmen und die Mächtigen in Villen und Limousinen da draußen, irgendwo.)

    Will ich also auf die Andere*, das Andere* im Sinne eines humanen und produktiven Ansatzes schauen, bin ich darauf angewiesen, dort einen Unterschied zu erkennen, der w i r k l i c h ein Unterschied ist. Gelingt mir das nicht, und ich sehe nur das “Gleiche“ oder gar “Dasselbe“, werde ich psychisch auf kürzer oder länger in einer Destabilisierung landen. Denn ich kann nur im Unterschied, der einen Unterschied macht, die existentielle Verbindung sehen und verstehen, die mich mit anderen Menschen zusammen am Leben erhält.

    Um zum Anfang dieses Blog-Eintrages zu kommen: Ist eine Mitbewohnerin* dieser Welt nicht mehr in der Lage, in meiner Person etwas Anderes als einen weißen alten Cis-Mann zu sehen, ist ihr/sein Blick ein gewaltätiger – nicht mehr aber auch nicht weniger gewalttätig als der Blick auf das “Andere“, gegen den sich die Kategorie “weißer alter Mann“ zu richten scheint.

    Um hier nicht falsch verstanden zu werden: Ja, ich verstehe den Wunsch, sich in einem therapeutischen Kontakt nicht an mögliche Kommunikationsstrukturen eines älteren, möglicherweise gesellschaftlich bevorteilten Mannes auszuliefern. Gleichzeitig kann dieser Wunsch zu einem Offenbarungseid vorab werden: Drückt er doch aus, dass ich gar nicht mehr in der Lage oder Willens bin, in meinem Blick auf das reale Gegenüber zu unterscheiden, ob dessen Kommunikation in diese Kategorie fallen würde. Und ich bin anscheinend auch nicht mehr in der Lage, zu beurteilen, ob möglicherweise ein “unverdächtiges“ anhand von äußeren Merkmalen ausgewähltes Gegenüber nicht dennoch genau in den von mir befürchteten kommunikativen Strukturen agieren würde. Das würde mir möglicherweise erst dann auffallen, wenn bereits eine nachhaltige Re-Traumatisierung stattgefunden hat, die ich anhand meines exkludierenden Blicks vorab ausschließen wollte.

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