Wenn das System uns zwingt

Wer ist stärker? Das System oder wir ›selbst‹? Wo sind wir selbst, außerhalb der allgemeinen Anforderungen wie Erwerbsarbeit, Hausarbeit, Mobilität und ihre Verkehrsregeln, staatsbürgerlichen Pflichten wie Steuerpflicht u.a. mehr? Ganz abgesehen von den großen systemischen Manipulatoren wie Werbung und Marketing oder den kulturellen Markern des sozialen Status, der Sprachfähigkeit und anderen mehr?

    Vielleicht müssen wir es so formulieren: Unser ›Selbst‹ besteht nicht in einer imaginären Unabhängigkeit von systemischen Zwängen, sondern vielmehr in der Art und Weise, wie wir uns mit diesen Zwängen arrangieren, wie wir uns selbst in ihnen wiederfinden und uns ihnen sogar ausprägen und ausdrücken. So gesehen wären dann viele “Zwänge“ auch produktive Regulatoren und Möglichkeiten, uns in den Strukturen des Zwangs in einer Art persönlicher Freiheit wiederzufinden. Eine feine dialektische Rettung der “freien“ ›Selbst‹, die wir auf diese Weise formulieren können.

    Aber sind wir hier nicht mit bloß sprachlichen Tricks aus der Bredouille entkommen? Schließlich ist Zwang nichts anderes als Zwang – und der ist in der Regel nicht sehr an-genehm. Ich kann meine Perspektive, meine Blickrichtung darauf ändern, den Zwang in eine Chance umformulieren, aber am Ende bleibt er, der ›Zwang‹, doch was er ist – nämlich eine Einschränkung der Möglichkeit, unser Selbst ungehindert (nach “gefühlt“ freien inneren Impulsen ausgerichtet) zu verwirklichen. Wenn es denn solche freien inneren Impulse überhaupt gibt – was eine philosophische Fragestellung wäre. An dieser Stelle und in der angemessenen Kürze eines Blogeintrags kommen wir nur weiter, wenn wir einen Blick auf die Oberfläche des Problems werfen, um von dort aus sogleich mögliche Verwerfungen in der Vertracktheit von Tiefenspiegelungen anzudeuten, sie zumindest dort zu vermuten … um andere Dimensionen des Problems mindestens “frei assoziieren“ zu können.

    Oberflächlich betrachtet bedeutet ›Zwang‹ die schiere Gewalt der unumstößlichen Regel und deren Normierung. Entziehe ich mich dem Zwang, bedeutet das hohe Kosten für mein Selbst – Kosten, die durch den Normenverstoß verursacht werden – bis hin zum Strafprozess bei strafrechtlichen Verstößen gegen “Zwänge“. Solche Kosten suche ich zu vermeiden, weshalb ich mich dem Zwang beuge. Das ist ein einfaches und gut durchschaubares Prinzip gesellschaftlicher Ordnung und ihrer Durchsetzung. Komplizierter wird es aber bei Zwängen, die sozusagen als Beiwerk von Normen und Regeln oder von untergeordneten Spielarten der großen Zwänge entstehen.

    Hierzu ein bekanntes Beispiel: das sogenannte Arbeitslosen-Geld II, genannt auch Hartz 4 bietet Menschen, die den systemischen Zwang der Erwerbsarbeit aus vielerlei möglichen Gründen nicht erfüllen können, eine gesetzliche verankerte Möglichkeit der “Zwangsbefreiung“: Werden die Gründe vom jeweiligen Sachbearbeiter anerkannt, wird der systemische Zwang sozusagen aufgehoben und durch andere Auflagen ersetzt (zb die Pflicht, vor Ort jederzeit erreichbar zu sein, vielerlei Fomulare und Anträge zu bearbeiten, Jobtrainings zu absolvieren, Gespräche mit behördlichen Beratern zu führen und vieles mehr). Anders als bei der Idee des bedingungslosen Grundeinkommen wird bei Hartz 4 also “Zwang 1“ durch “Zwang 2“ ersetzt. Und oft genug entsteht dadurch noch viel größerer Druck – denn “Zwang 1“ (die gesellschaftliche Prämisse der Erwerbsarbeit) unterliegt immerhin dem Nimbus der Freiheit und Autonomie: Ich muss arbeiten, aber ich bekomme Lohn und Autonomiestatus als Gegenleistung – wenn auch in den meisten Fällen immer nur unter der Prämisse der Verlustgefahr: Das Gefühl des möglichen (Arbeitsplatz)-Verlustes kann sich auf diese Weise zu einem “sekundären“ Zwangsgefühl entwickeln, psychologisch vergleichbar mit so etwas wie der “Angst vor der Angst“.

    Mit diesem kleinen Exkurs wollte ich beschreiben, wie vertrackt Systeme und ihre Anforderungen auf Menschen einwirken können. Es kann schon beginnen, wenn ein Mensch eine Handlung zum eigenen Vorteil unternimmt (zb. sich einen schönen Wagen kauft), aber bald darauf die “Folgezwänge“ des Eigentums verspürt: Vielleicht steht er zu oft im Stau oder findet keinen Parkplatz und ist gezwungen dadurch “Zeit“ zu investieren, was er so gar nicht wollte. Vielleicht hat er falsch gerechnet und die Kosten für Inspektion und Benzin,. für TÜV und Versicherung sind schmerzhafter als erwartet. Insofern verursacht auch das System des eigenen Vorteils – im Liberalismus gepriesen als der Heil- und Glücksbringer schlechthin – jede Menge nicht nur unausweichliche Folgekosten als auch Zwänge unangenehmster Art. Diese werden dann oft als Verantwortung (zb: “Eigentum verpflichtet“) umdefiniert und auf diese Weise letztlich eher verharmlost. Was heißt schon Verantwortung, wenn kein wirklicher Zwang da ist. Wenn er aber da ist, ist es in der Regel deutlich mehr als lediglich eine ›Verantwortung‹.

    Eines scheint aber auch klar zu sein: Der Mensch ist so “gestrickt“, dass er mit vielerlei Kreativität und Tricks versucht, Zwänge in etwas Positiveres zu verwandeln. Sie, wie oben angedeutet, zu seinen eigenen Gunsten zu manipulieren oder umzudeuten. Und der Mensch ist ein Meister der Erfindung, wenn es darum geht, Normen nicht nur zu verstehen, sondern sie zu seinen eigenen Zwecken und Gunsten umzubauen, sie zu transformieren. Nur eine solche Transformation von systemischen Normen und Zwängen hilft uns, hilft unseren Systemen, lebendig und beweglich zu bleiben. Systemische Transformationen beinhalten die Chance, auch das zerstörerische Potential von Zwängen und Normen rechtzeitig zu erkennen und dagegen eine Veränderung und neue, reflektiertere Normen einzusetzen.

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